Südamerikas Gesichter

Ich werde von einer Erschütterung aufgeweckt. Der Nachtbus muss wohl durch ein Schlagloch gefahren sein. Ich schau auf mein Handy: 6.13, viel zu früh, denke ich mir. Ich versuch weiter zu schlafen, doch das Schlagloch war nur eins von vielen. Ich zieh den Vorhang auf und stelle voller Erstaunen fest, wie sich die Natur verändert hat. Nichts erinnert mehr an das trockene, heiße und verstaubte Concordia, in dem mich Ricardo am Vortag abgesetzt hatte: alles ist tropisch grün, nass und voller roter Erde. Ich hab das Gefühl in Laos oder Sri Lanka aufgewacht zu sein, bin aber in Misiones, dem nordöstlichen Zipfel Argentiniens und fahre gerade voll durch den Dschungel.

Eine Stunde später bin in Puerto Iguaz. Da es regnet verbringe ich den Tag im Hostel und bereite mich auf die Wasserfälle vor: die Fälle liegen zum Teil in Brasilien und zum Teil in Argentinien, beide Seiten haben einen Nationalpark und so richtig gibt es keinen Konsens, welche Seite denn schöner sei. Ich entscheide mich für die argentinische und packe mein Daypack.

Am nächsten Tag fährt uns ein Bus zum Eingang. Die Tour fängt mit einer Wanderung unterhalb der Fälle an, zig Stege und Treppen führen tief in den Dschungel hinein, immer wieder kommen ein paar Sonnenstrahlen durch die dicken Blätter hindurch. Umso tiefer ich e​​indringe, desto lauter wird das Rauschen, keinerlei Zweifel mehr an der mächtigen Präsenz der Fälle, doch sehen kann ich nichts. Und dann, fast unerwartet, am Ende eines Steges erscheinen sie vor mir, die Fälle aller Fälle, eines der Wunder dieser Erde, so schön, dass selbst die Schöpfer sich noch ihres Anblicks erfreuen müssen.

Den ganzen weiteren Nachmittag schau ich die Fälle an, wundere mich, ob die Fische oberhalb der Fälle wohl den blassesten Schimmer haben, was sie in wenigen Metern erwartet und genieße das Naturspektakel. Mich haben bis jetzt wenige Sachen komplett umgehauen, die Iguazu Wasserfälle sind aber so beeindruckend, dass ich am nächsten Tag gleich noch entscheide einen Tag auf die brasilianische Seite zu fahren, um das ganze Bild zu bekommen.

Nach meinem Kurztrip nach Foz de Iguazu in Brasilien (und einem verdammt gut Meatsandwich) geht es dann schließlich weiter nach Paraguay. Eigentlich liegen die Iguazufälle am Dreiländereck, doch Paraguay hat keinen Anteil daran, was ziemlich gut die Gesamtsituation des Landes beschreibt. Paraguay ist wie das Stiefkind Südamerikas, es hat kein Meer, keine Berge und eine der wenigst besuchten UNESCO-Stätten der Welt. Die meisten Travelers wissen nicht nur wenig über das Land, sondern meist gar nicht von dessen Esistenz. Und in fast ganz Südamerika herrscht der Konsens, dass es in Paraguay nichts gibt, außer billiger und gefälschter Technik. Ich will Paraguay trotzdem eine Chance geben.

Die Einreise nach Paraguay ist simpel, so simpel, dass ich erst einmal ohne Passkontrolle hereinkomme. Angst vor illegalen Einwanderern scheint Paraguay nicht zu haben. Nach etwas Suchen finde ich auch das Immigration Office und legalisiere meinen Aufenthalt. Doch Ciudad del Este ist abgrundtief hässlich, es gibt riesige Shopping Malls und an jeder Ecke Zelte und Buden, die Technik verkaufen, sodass ich ganz froh bin wenige Minuten später schon im Bus nach Encarnacion zu sitzen.

Da angekommen komm ich in ein gemütliches ​​Hostel​ mit erstaunlich vielen positive Vibes mit einer angenehmen familiären Atmosphäre. Ich fühl mich schnell wohl und gemeinsam verbringen wir die nächsten Tage am Strand des Rio Paraná, grillen im Innenhof und trinken abends gemeinsam Bier. ​Ich sprech wieder mehr Spanisch, was mir nach einer französischen Domination an den Iguazuwasserfällen ganz gelegen kommt und so kommt es, dass ich mich am zweiten Abend an einem Tisch mit einem Brasilianer, einem Chilenen und Kolumbianer wiederfinde. Was wie der Anfang eines Witzes klingt, war eher ein Intensivkurs in südamerikanischer Kultur, denn auf einmal saß an jeder Ecke des Tisches eines der unterschiedlichen Gesichter dieses wunderbaren Kontinentes:

Alex kommt aus Sao Paolo, ist ursprünglich Chefkoch aber managt aktuell das Hostel in Encarnacion, und steht für mich für die Herzlichkeit Südamerikas. Kaum hatte ich das Hostel am ersten Tag betreten, hatte ich auch schon ein Bier in der Hand, wenig später einen Teller mit einem riesigen Stück Lasagna vor mir. Willst du ihm Geld dafür geben, schickt er dich zur Hölle oder höchsten zum Kiosk um die Ecke, um neues Bier zu holen. Alex erzählt Geschichten, macht einen Witz nach dem anderen und sabotiert erfolgreich jeden Plan zeitig schlafen zu gehen. Er hat ein Talent für Unterhaltung und es gefühlt zu seiner Lebensaufgabe gemacht, es den Menschen um sich gut gehen zu lassen.

Felipe ist Chemiker, hat sehr gepflegte Rastas, einen langen Bart und kommt aus Santiago de Chile. Wie kein anderer vertritt er die Naturverbundenheit, die in Südamerika noch tiefer als in Europa verwurzelt ist. Die Spanier hatten zwar früher viele Ureinwohner getötet oder verschleppt, doch stärker als in den USA hat sich dennoch der Einfluss dieser Kulturen gehalten. Felipe ist jünger als ich, doch wirkt weiser als Meister Yoda, er scheint alle Naturgesetze zu kennen und als er mir erzählt, wie ein Lebensstil ohne Fleisch, Zucker und Alkohol die Kraft seines Körpers und Geistes stärken, ist er so überzeugend, dass ich kurz mit dem Gedanken spiele, doch grätscht Alex erfolgreich dazwischen.

Franco kommt aus Kolumbien, lebt aber seit Jahren in Buenos Aires. Er verkörpert ohne Zweifel die Anmach-, Tanz- und Flirtkultur der Latinos. Die sexuelle Spannung, welche in Südamerikas Luft hängt, ist stärker, als ich sie je irgendwo erlebt hatte: schöne Menschen und viel nackte Haut treffen auf die verführerischen Rhythmen des Reggaetons, welcher bis tief in die Nacht überall wird. Es wimmelt nur so an tiefen und intensive Blicken und die verführerischen Gerüche von Schweiß und Parfum hängen an jeder Ecke in der Luft. Franco lebt und liebt die sexuelle Spannung nicht nur, er kreiert sie, mit einem Mix aus Humor, Charme und seinen kolumbianischen Salsa-Skills.

Der Abend wird zur Nacht und die Nacht zum morgen, erst als die Sonne schon deutlich über dem Horizont steht, entscheide ich mich schlafen zu gehen. Auch die nächsten Tage gehen intensiv weiter, Südamerika schläft kaum. Höhepunkt ist der Karneval in paraguayische-brasilianischen Stile – Franco geht hier vollkommen auf – bei dem stundenlang leicht bekleidete Frauen und Männer tanzend durch das eigens und ausschließlich für den Karneval erbauten Hippodrom ziehen. Als alles vorbei ist, bin ich erschöpft. Ich hatte in Paraguay nur kurz die in der Tat nicht ganz so spektakulären Ruinen einer Missionsstadt gesehen und den Rest der Zeit so gut wie nonstop mit den drei Charakteren Südamerikas verbracht. Es ist Zeit weiterzuziehen.

Ich will nach Bolivien, habe aber von einem französischen Freund das Angebot einen kleinen Roadtrip mit zwei Australierinnen um Salta und Jujuy zu machen. Da Salta auf der Route nach Bolivien liegt, nehme ich das an. Wir verbringen ein paar sehr entspannte und nette Tage on the road, sehen unglaublich schöne und vielseitige Natur, essen Lama und, bleiben im Schlamm stecken. Die Ruta Nacional 40 in Jujuy ist wenig asphaltiert und die Nacht davor hatte es geregnet, was uns keineswegs beindruckt hatte. Wahrscheinlich war das der Grund, warum kein weiteres Auto auf der Straße war, aber wir hatten jede Menge Spaß im Schlamm und in den Pfützen zu fahren, bis eine circa 15m langes Schlammfeld kam. Ich war am Fahren und hatte wohl erst zu spät gesehen, wie lang das war und ehe ich mich versehe, dreht sich das Auto auch schon und nichts geht mehr.

Das Karma wollte aber, dass wir 10 Minuten vorher angehalten hatten, weil zwei Typen mitten auf der Straße neben einem hochgestellten Motorrad lagen, übrigens in der Tat das einzige weitere Fahrzeug, was wir gesehen hatten. Wir dachten schon das schlimmste, aber die beiden Argentinier, wie sich raus stellte, hatten nur etwas viel getrunken und den Moment genutzt etwas zu schlafen. Nun kamen kurz nach unsrem Missgeschick die beiden an, lachten herzlich und boten uns Wein mit Coke an. Wir nehmen dankend an und freuen uns zu erfahren, dass in der Nähe ein kleines Dorf ist, aus welchem einer der Jungs uns eine Schaufel besorgen. Zwei Stunden und jede Menge Schlamm später sind wir wieder frei und laden unsere Retter noch zum Essen ein, bevor wir unseren Roadtrip Richtung Tilcara beenden.

Trotz allem Abenteuer und der guten Gesellschaft hab ich das erste Mal ein kleines Down auf der Reise. Ich ​musste viel an die Hochzeit von Miguel und Gigi denken, schließlich wird sie ja genau hier im Jujuy stattfinden. Der Wert des Ethereums ist während des Roadtrips ​aber ​noch einmal richtig eingebrochen, mittlerweile fast auf ​wenige als die Hälfte meines ursprünglichen Investments, sodass es mir gerade schwer fällt zu glauben, dass ich es im März hierher schaffe. Außerdem gab es im letzten Hostel Bettwanzen, diese kleinen abartigen Parasitentiere, welche sich in Kissen verstecken und Reisenden das Leben zur Hölle machen. Überall juckt es und ich kann mein Antihistamin nicht finden, wahrscheinlich, weil ich gar keins mitgenommen hab.

​Und, wie als wenn das nicht genug wäre, hatten mich ​die Höhe und die Kälte in Jujuy ​etwas angeschlagen, ich fühl mich ständig schlapp und hab eine leichte Erkältung.​ Man denkt gerne Reisen ​sei nur angenehm, wie ein ewig langer Resorturlaub, aber in solchen Momenten, das kann ich garantieren, wäre ich fast lieber wieder im kalten Berlin. ​Es ist das erste Mal, dass ich mich kaum auf das Weiterreisen freue, schließlich geht es weiter hoch hinaus in die Anden, wo es nur unglaublich hoch und kalt ist. Ich überlege kurz spontan nach Brasilien zu fliegen, aber reiß mich schließlich zusammen, denn schließlich fährt in wenigen Stunden mein Bus nach La Quiaca, an die Grenze zwischen Argentinien und Bolivien …

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