Von Dschungel, Witz und Mord!
Ich hatte noch nie eine Tarantel so nah gesehen. Sie hatte sich hinter dem vom Feuer angewärmten Ziegelstein unserer improvisierten Dschungelküche versteckt und war uns nicht aufgefallen, bis sie eines ihrer haarigen Beine um die Ecke gesteckt hat. Auf Bein eins folgt Bein zwei, kurz später sind alle vier zu sehen, wie die Hand eines Akkordeonspielers bewegen sie harmonisch bis sie sich schließlich ganz um die Ecke traut. Wenn man sich nur Ihr Gesicht anschaut, sieht die Tarantel fast sogar süß aus, mir ihren sechs großen, kullerrunden Augen schaut sie vorsichtig, wo sie wohl als nächstes ihr Bein hinsetzen soll. Ich muss daran denken, wie mein Freund Max sich gefreut hätte. Er gehört zu dem einen Prozent der Menschheit, bei denen die Faszination für Spinnen größer als Ekel und Abneigung ist. Ich gehöre zu den anderen 99% und hätte das Vieh am liebsten auf der Stelle flambiert.
Wir sind mitten im tiefsten Amazonasgebiet, da wo die nächste Straße 800km entfernt ist, da wo es noch Kannibale gibt und man aber auch sonst ohne Guide wohl keine 24h überlegt. Diego, ein enger Studienfreund aus Italien, ist für zwei Wochen zu mir nach Kolumbien gekommen. An unserem ersten Abend hatten wir noch heftig über die Politik in Italien diskutiert, schließlich waren gerade erst Wahlen gewesen, bei der Abneigung gegenüber der Tarantel sind wir uns wenigsten einig. Das Abendprogramm unserer Tour sieht eine Nachtwanderung durch den Dschungel vor. Dazu müssen wir erst einmal mit einem Boot von unserer Hütte wegfahren, welche durch das schon seit Wochen allmählich steigende Wasser geflutet war. Die Mühe lohnt sich aber, schon nach wenigen Minuten werden mit noch mehr giftigen Fröschen, Skorpionen und Spinnen belohnt.
Das eigentlich Highlight unserer Tour ist aber unser Tourguide selber. Die erste Begegnung hätte schon kaum komischer sein können: Ramón, dessen echten echten Namen ich als Geheimnis im Amazon gelassen hab, ist ein spargeldürrer, eher kleiner und knapp 20-jähriger gebürtiger Peruaner, welche eine Riesenmachete um seinen Körper gespannt hat. Also er uns die Hand gibt, erschrecken sowohl Diego als ich, weil wir quasi in Leere greifen. Dem armen Jungen fehlen mehr als die Hälfte der Finger, nicht gerade das vertrauenswürdigste, wenn man bedenkt, dass er für unsere Sicherheit im Dschungel sorgen wird.
Doch trotz seiner Behinderung managet er die Tour souverän, als wir mit dem Boot stecken bleiben, umgreift er die Machete mit seinen zwei Fingern und zerschmettert alle Äste und Stämme, welche sich uns in den Weg stellen, er kennt jeden Fluss, jede Abzweigung und gefühlt jeden Baum des riesigen Gebiets, in dem wir uns bewegen und bei unserer Nachttour bittet er uns an einem bestimmten Punkt alle Lichter auszumachen, springt wie besessen ins Gebüsch und kommt stolz mit einem Kaimanbaby wieder. Als wir uns etwas mehr unterhalten, erzählt er mir, dass er noch nicht einmal in Bogota war – als Traveler und jemand, der soviel von unserem Planeten sehen möchte, wie nur möglich, fällt es mir verdammt schwer zu glauben, dass er in seinem Leben nur den Amazonas gesehen hat. Er lebt wirklich in einer anderen Welt, kennt diese aber viel besser, als ich die unsrige wohl je kennen werde.
Zwei Tage später sitzen Diego und ich im Bus, welcher uns vom Flughafen Medellins ins Zentrum bringt. Während ich auf meinem Handy versuche herauszufinden, wo unser Hotel ist, scherzt Diego mit Rubi, einer jungen Kolumbianerin, die wir im Flieger kennengelernt hatten. Ich bin ganz froh wieder in der Zivilisation zu sein und freue mich auf die beiden Nächte in Medellin, die Stadt hatte mir total gefallen und ich habe Lust auf Ausgehen, auf Tanzen, auf etwas Action, die nichts mit Krokodiljagd zu tun hat. Action sollten wir bekommen, nach einer Nacht in den Salsaclubs auf der Carretera 70, haben wir uns am nächsten Morgen entschieden eine umstrittene Pablo Escobar Tour mitzumachen.
Pablo Escobar Tours sind verhasst bei den Menschen aus Medellin. Keine Person hat ihre Vergangenheit so sehr geprägt wie der einst reichste Mafioso der Welt, mehr im Schlechten als im Guten, jeder Paisa – so nennen sich die Einwohner aus Medellin – hat mindestens einen Verwandten oder Freund verloren, die Wunden sind noch frisch, zu wenig Zeit ist seit dem mit blutigsten Kapitel kolumbianischer Geschichte vergangen. Und daraus Geld zu machen, nur um den Hunger abenteuergeilen Gringos zu stillen, ist nicht ganz so gut gesehen, genauso wenig, wie die abenteuergeilen Gringos selbst. Es kommt nicht selten vor, dass ein paar aufgebrachte Menschen die Pablo Escobar Tour crushen, Touristen sind schon beschimpft und sogar angegriffen worden. Diego und mir bleibt das erspart, im Gegenteil, wir haben sogar Glück und sind, da ein Teil der Gruppe kurzfristig abgesagt hat, ganz alleine mit dem ehemaligen Chauffeur Pablos.
Carlos ist vielleicht um die 50 und erzählt uns enthusiastisch von seinen Fahrten mit dem „Patron“, führt uns durch das Luxusgefängnis, dem wohl exklusivsten Anwesen Medellins, in dem sich Escobar hat einsperren lassen. Selbstverständlich wurde dies groß in den Medien inszeniert, wirklich als Häftling musste sich Escobar nie fühlen. Als wir schließlich auf dem Weg zum Friedhof sind, erzählt er uns stolz von seiner Freundschaft mit Popeye, dem wohl blutrünstigstem Auftragskiller Escobars, ruft diesen sogar vor uns an, kaum aufgelegt erzählt er uns weiter von seinen wilden Partys zu Escobars Zeiten mit dem pursten Kokain, den besten Clubs und natürlich den hübschesten Frauen Medellins.
Dieser Typ ist klein, aber voller Energie und sprudelt nur so von Geschichten, gerade das macht ihn mir sympathisch. Trotzdem überzeugt mich etwas nicht, ich werde die ganze Zeit das Gefühl nicht los, er trauert in seinen Erzählungen einer glorreichen Zeit hinterher. Als wir schließlich an einer Beerdigung vorbeikommen, bricht er auf einmal abrupt seine Geschichten ab, hält inne und stoppt sogar den Motor. Er dreht sich zu uns, uns seine sonst so belebte Stimme klingt auf einmal melancholisch, aber auch ein klein bisschen belehrend: „Amigos! Ihr könnt in eurem Leben machen, was ihr wollt, aber eins sag ich euch, verliert niemals eure Bescheidenheit, denkt niemals ihr seid besser als andere, denn am Ende landen wir alle in solch einer Kiste, die Frage ist nur ob mit Kugel im Kopf oder ohne!!!“ Diese Worte haben viel Potenzial zum Nachdenken, trotzdem entscheiden wir uns für noch mehr Action und verbringen unseren letzten Abend in Medellin mit einem Hostel-Dreamteam wieder auf den Tanzflächen, bevor es am nächsten Tag gen Süden weiter geht.
Kolumbien hat, was Natur angeht, unheimlich viel zu bieten: trockene Wüsten, tiefen Dschungel, eisiges Hochgebirge, verregnete Hügellandschaften, die traumhaften Karibikstrände, unendlich weite Canyons und die schroffe Küste des Pazifiks, um mal die Highlights zu benennen. Diego ist nur noch wenige Tage da, und außerdem gesellen sich noch Gianluca, Stefano und Giovanni, drei weitere Freunde aus Römer Unizeiten hinzu, sodass wir die nächsten zwei Wochen damit verbringen, so viel wie möglich vom Land zu sehen. Am meisten beindrucken mich die Valle de Cocora im Salento, der Tayrona Nationalpark und die Pazifikküste, welche ich, nachdem alle Italiener wieder weg sind, mit einer Freundin an meinem letzten Wochenende noch einmal auschecke.
Die Zeit ist intensiv, vergeht aber auch verdammt schnell, und so befinde ich mich schließlich knapp vier Stunden vor meinem Abflug auf einem Fahrrad auf der Avenida El Dorado. Ich war am Vorabend erst in Bogota angekommen und hatte entschieden am letzten Tag noch eine Radtour durch die Stadt zu machen. Meine Meinung über Bogota hat sich dadurch nicht geändert, die Stadt ist weder ein kulturelles noch ein architektonisches Highlight, trotzdem beeindrucken mich die Murales an der Avenida. Das größte zeigt Jaime Garzón, den wohl bekanntesten Komiker des Landes, oder besser, es zeigt ihn in seiner wichtigsten Rolle als Heriberto de la Calle, den naiv unschuldigen und zugleich frechen Schuhputzer von der Straße.
Jaime war durch politische Satire bekannt geworden, er vermochte es selbst in den dunklen und blutigen 90ern die gesamte Nation zum Lachen zu bringen. Irgendwie typisch kolumbianisch. Dabei war sein Witz alles andere als flach und einfach, wie ein geschickter Narr führte er alle möglichen Celebrities, Politiker, aber auch seine treuesten Anhänger an der Nase herum: nach einer feurigen Rede vor den eher linken Studenten der Universidad de los Andes erntete er eine Standing Ovation, nur um noch einmal an das Mikrofon heranzutreten, um dem Publikum mitzuteilen, dass er soeben 1:1 eine Rede von Benito Mussolini zitiert hatte. Genial! Und wieder typisch kolumbianisch. Und ja, typisch kolumbianisch hat er diese Welt auch wieder verlassen: am 13. August 1999 wurde er im Alter von gerade einmal 38 Jahren ermordet, in Auftrag geben vermutlich von einer rechten paramilitärischen Gruppierung um Carlos Castaño. Ich schau mir noch einmal seinen schrägen Gesichtsausdruck an und versinke fast in der Wand, selbst als Graffiti wirkt der Komiker verdammt witzig. Ich werde erst aus meinem kurzem Tagestraum gerissen, als unser Fahrradguide mich ruft. Ja, es ist Zeit loszufahren, sonst verpass ich meinen Flieger.
Ein paar Stunden später beobachte ich wie die Dächer Bogotas immer kleiner werden, wir sind gerade abgehoben. Der Abschied fällt erstaunlich leicht, komisch, wenn ich bedenke, was für wunderbare Monate ich in Südamerika verbracht habe, aber gut, eigentlich weiß ich auch warum, es war nämlich sicherlich nicht das letztes Mal, dass ich einen Fuß auf diesen außergewöhnlichen Kontinenten gesetzt hab: Sudamérica, nos vemos pronto!
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